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Nachrichten Kultur

Heute vor 20 Jahren: Die „Galgen“-Vernissage

Künstler träumen davon, dass sie hineinwirken in die Gesellschaft, und für die meisten bleibt es ein Traum. So viel Aufmerksamkeit und Kontroversen wie der „Galgen“ neben dem Münster hat kein anderes Kunstobjekt im 20. Jahrhundert in Gmünd zur Folge gehabt.

Mittwoch, 10. Oktober 2012
Rems-Zeitung, Redaktion
3 Minuten Lesedauer

Von Reinhard Wagenblast
KUNST. Die Gmünder hatten das Objekt des griechisch-​italienischen „Arte povera“-Protagonisten Jannis Kounellis schon lange zuvor im Werden betrachten können. Zunächst im April 1992 noch als Skizze, die Kounellis angeblich bei einem Espresso auf ein Blatt Papier des Hotels Colon in Barcelona geworfen hatte, dann als anschwellende Debatte und in Form einer Fundament-​Baugrube auf der Nordseite des Münsters, die das Denkmalamt ins Rotieren brachte, schließlich als Werk von wackeren Zimmerleuten, die das 32 Meter hohe Holzobjekt aufrichteten, dessen Schaft sich verjüngte und an dessen Ausleger ein grüngrauer Sack mit Altmöbeln gehängt wurde.
Es war das letzte, größte und mit 500 000 Mark teuerste Objekt des Projekts „Platzverführung“. 60 000 Mark übernahm die Stadt Schwäbisch Gmünd. Die „Platzverführung“ wiederum war Teil eines Bündels von PR-​Aktionen, mit denen Stuttgart seine Bewerbung um die Olympischen Spiele aufhübschen wollte. Über die eigens gegründete „Kulturregion Stuttgart“ sollte die württembergische Provinz daran teilhaben können. Aus Olympia in Stuttgart ist nie etwas geworden. Der Teilnahme Gmünds am internationalen „Platzverführungs“-Projekt hatte der Gemeinderat ein Jahr zuvor zugestimmt, freilich ohne zu wissen, worauf er sich einließ. Es war von Skulpturen im öffentlichen Raum die Rede, 18 Städte nahmen daran teil, eine konzertierte Kunst-​Aktion. In Göppingen begnügte sich man mit ein paar Durchblick-​Mäuerchen auf einem Kreisverkehr, in Schorndorf installierte das Schweizer Kunst-​Duo Fischli /​Weiss ein paar Fertiggaragen. Man geht nicht fehl in der Annahme, dass ein Gutteil der Aufregung, die Kounellis’ Objekt verursachte, schon in der schieren Größe begründet lag. Wäre der Galgen so hoch wie einer der Leucht-​Stängel auf dem Münsterplatz gewesen, er wäre glatt übersehen worden.
Aber in der Größe und in der Nachbarschaft, ja Beziehung zum Münster lag auch eine Anmaßung und die Zumutung – so sahen es jedenfalls eine Menge Gmünder. Obendrein erblickten sie darin eine Aktion, die ihnen „von oben“ aufs Auge gedrückt worden war von einer korporativ agierenden Obrigkeit und von einem arroganten, abgehobenen Kunstbetrieb. Dieser wurde personifiziert in dem Organisator der „Platzverführung“, dem betriebsamen Ausstellungsmacher Rudi Fuchs, der zunächst die Bezeichnung „Galgen“ für das Kounellis-​Projekt akzeptierte, später aber nur noch von einem „kranähnlichen Objekt“ sprechen wollte. Sein Vortrag im Prediger, in dem er eine Linie von Caravaggio bis zu Kounellis zog, glättete die Wogen nicht.
Als der Möbelsack einen Tag vor der „Vernissage“ am Ausleger baumelte, versammelte sich eine Menschenmenge. „Wie nie zuvor wurde der Münsterplatz gestern zu einem Treffpunkt von Gmündern und Auswärtigen. Staunend, wütend, begeistert, betroffen, schmunzelnd, schreiend, ehrfürchtig, traurig und manchmal sogar mit Tränen in den Augen schaute man sich an, was ein Künstler beziehungsweise seine Helfer am Münster und mit dem Münsterplatz angerichtet haben. Diskussionen und Streitereien über Sinn und Unsinn des Galgens stellten alles in den Schatten, was das Kulturleben in Schwäbisch Gmünd seit den legendären Kunstmärkten der 60er-​Jahre erlebt hat“, hieß es in der Rems-​Zeitung vom Samstag, 10. Oktober. Die Auseinandersetzung um Kunst, Kultur und Kommunalpolitik, die in den Wochen zuvor und noch hinterher geführt wurde, hatte enorm polemische und erbitterte Formen angenommen. Von „Platzvergewaltigung“ war die Rede, und manche wünschten den „griechischen Sackhalter“ an die Akropolis. Andere höhnten über die „Provinzdeppen“.
Am Nachmittag jenes Tages versammelte sich ein halbes Tausend Menschen auf dem Münsterplatz zu etwas, was man als offizielle Einsegnung bezeichnen könnte. OB Schuster beschwor Toleranz, die Offenheit der Kulturstadt und die geistige Auseinandersetzung mit der Kunst. Vernissagenredner war der Jesuitenpfarrer, Ausstellungsmacher und Kunstkenner Friedhelm Mennekes. Der sprach vom „Biss in die Gotik“ und interpretierte den Galgen (wahlweise Kran) als halbes, „dekonstruiertes“ Kreuz, in dem sich der Mensch von heute zeige. Eine Kunst-​Exegese, die auf den Registern von Memento mori und „Hänge deine Seele nicht an materielle Güter“ spielte und Josef Beuys und Alfred Hrdlicka als Glaubenszeugen und Brüder im Geiste anrief. Zur Vermittlung des Werkes oder von Kounellis’ Anliegen trug Friedhelm Mennekes eher wenig bei. Der Künstler selbst stand unbeachtet am Mäuerchen beim Stadtarchiv.
In den Folgewochen zausten Stürme Galgen und Sack. Dieser platzte und verlor seine Form, Möbelbruch fiel auf den Münsterplatz und gefährdete Passanten. Aufgefüllt wurde der Sack mit Styroporbrocken, worauf er eher flatterte als schwang. Dann wurde der Galgen abgebaut und verrottete auf dem Gmünder Bauhof. Im Verborgenen ist noch etwas vorhanden: das Fundament, die Betontrommel unter dem Pflaster des Münsterplatzes. Kunst kann scheitern und Kunstvermittlung kann elend missglücken. Ob Kunst im öffentlichen Raum aber immer so harmlos sein wie auf der „Gmünder ART“ oder so jenseits der Öffentlichkeit stattfinden muss wie die „Juvenale“ im September, das kann man sich nach 20 Jahren schon fragen.

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