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Zu Carmen strömten die Besucher erwartungsgemäß in Scharen

Erwartungsgemäß strömten die Besucher. „Carmen“ kennt man! Ob man den vielen mitgebrachten Kindern einen Dienst getan oder sie eher doch tüchtig überfordert hat?

Dienstag, 20. März 2012
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 26 Sekunden Lesedauer


Von Peter Skobowsky
OPER. Selten war ein komplexes Werk so gründlich vorbereitet worden wie hier durch das Theater Pforzheim. Allein die dicht skizzierten Beiträge des Programmheftes belegen die verdienstvolle Auseinandersetzung mit den Quellen. Interessanterweise hatte Bizet in allen Opern ausländische Schauplätze, deren musikalisches Kolorit eher „geborgt“ war, indem er in „Carmen“ das „typisch Spanische“ selbst erfunden hatte (wie viele Komponisten vor ihm dies auch taten, die ebenfalls nie an den Orten der Handlung gewesen waren). Das ist kein beckmesserischer Abstrich an künstlerischer Imagination.
Alle kamen spielerisch
treffend und stimmlich beeindruckend zur Geltung
Die Abkehr der Pforzheimer von tradiert klischeehaften Selbstläufern (z. T. von Bizet geduldet, wenn nicht verursacht), die konsequente Entschlackung samt Rückkehr zu gesprochenen Dialogen tat der Aufführung gut (hilfreich auch die Übertitelprojektion von Ulrike Schröder, Theater Magdeburg: aber zu klein und für die vorderen Publikumsreihen Halswirbel schädigend).
Erstaunlich für ein städtisches Theater auch die mehrfache Rollenbesetzung, wobei alle, auch die Nebenrollen, spielerisch treffend und stimmlich beeindruckend zur Geltung kamen. Da hat man auf „großen“ Bühnen ganz anderes erlitten, selbst bei weniger Anspruchsvollem.
Zuerst sind der junge Kapellmeister Martin Hannus und seine ausgezeichnet agierende Badische Philharmonie zu loben: schnörkellos, distinguiert und mit der nötigen Balance von Pfeffer und Schmelz, kiekserfreie vier Hörner (!), tolle Streicher und Harfe, differenziertes Holz, Blech und Schlagwerk (nur die Pauken zeigten Dialogdefizite und drängten).
Die Bühne spartanisch einfach mit fahrbaren Chortreppenbänken vor tiefem Schwarz, ein ebenfalls fahrbarer Käfig als Gefängnissimulator – keine „üppige“ Bühne, dafür inhaltlich konzentrierend. Nur bei den Frauenkleidern (und dem Stierkämpfergewand) wurde nicht an Farben gespart.
Ein zupackender Chor, flexibel in allen Belangen, gab dem Geschehen und den Solisten die eigentliche Kulisse.
Natürlich schlugen die Herzen bei den Ohrwürmern (Habanera, Seguidilla und Micaëlas Arien) höher; genial der Einfall, Carmen mit einer Tänzerin (Mercedes Pizarro – nomen est omen!) zu doubeln, sodass Gesang und Tanz ebenbürtig dominieren konnten. Auch die Symbolisierungen (etwa des Einstechens auf das rote Gewand beim Mord an Carmen) zeugten von Ideenreichtum. Das Agieren der handelnden Personen verriet deren Ausdrucksidentität im Konsens der Regie (Bettina Lell): etwa in der differenzierten Charakterisierung des Don José! Zu den wenigen verzichtbar anbiedernden Konzessionen an den zeitgeistigen Voyeurismus gehörten die Don José zugeworfenen Kondome im dazu erfundenen „Dialog“ ebenso wie die angedeuteten, auch Vergewaltigungs– u. a. Sexaktivitäten.
Die Carmen der Merit Ostermann ist nicht zu übertreffen. Wie sie ihre Rolle agierend und stimmlich aufregend ausfüllte. Beim Don José von Alessandro Rinella konnte man die mehrfache Entwicklung schlüssig mitvollziehen: stimmökonomisch klug dosiert bis zur hochdramatisch exponierten Höhe; Gestik und Mimik in einer Mitte aus tollpatschig daherkommendem Sturm und Drang sowie echter Leidenschaft. Dem Escamillo des smarten Màté Sólyom-​Nagy fehlte die Homogenität strömender Linien zur Komplettierung seiner sonst wirkungsvollen Gestaltung. Die Micaëla der Katja Bördner war ein Traum. Ganz ungekünstelt, in ehrlicher Schlichtheit voll und ganz überzeugend, stand ihr ein mezzohaftes Timbre in sonor druckfreier Tiefe und eine strahlend frauliche Höhe zur Verfügung: betörend schön. Die „Nebenrollen“ überzeugten (präfixfrei!) und gaben dem Ganzen eine bestechende Einheit wie auch die konzentrierte Lichtregie (Peter Halbsgut). So durfte man ein wirkliches Gesamtkunstwerk großer Meisterschaft erleben, an dem andere Bühnen Maß nehmen sollten.
Bleibt das Grundproblem: personal treue Liebe oder bloßes Gefühl, Leidenschaft als einziges Kriterium in der Beliebigkeit des Wechsels – zugleich Spiegel sich gegenwärtig verstärkender Folgeproblematik, deren ethische Antwort an das Publikum zurückgegeben wird, und wiederkehrende Anfrage an das Schillersche Axiom des Theaters als „moralische Anstalt.“

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