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Theaterwerkstatt: Kehrreime statt Kernwaffen

Wie weit driften reale Politik und heile Schlagerwelt auseinander, welche Themen bewegen die leichte Muse und was passiert derweil in der Welt?

Freitag, 04. Mai 2012
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 30 Sekunden Lesedauer

KLEINKUNST (wil). Mit ausgewählten Ohrwürmern aus den vergangenen fünfzig Jahren und einer pfiffigen Umsetzung deren Botschaften gaben die vier Akteurinnen von „Dein Theater“ eine sinnschwere Geschichtsstunde.
Was singt man, wenn um einen herum alles in Schutt und Asche fällt, der Zweite Weltkrieg sich seinem schrecklichen Ende nähert? Rudi Schuricke gab 1943 darauf die Antwort und ließ auch die rote Sonne im Meer versinken, allerdings bei Capri.
Der von Friedrich Beyer gelungen konzipierte Rückblick auf fünfzig Jahre deutscher Geschichte im Spiegel ihrer Schlager wird von Ella Werner in geläufigem Berlinerisch beplaudert. Sie stellt die leichte Muse als echte Blondine vor, unbekümmert von allem, was um sie herum so passiert, ja manchmal schon von trotziger Fröhlichkeit. Und da hat Ella Werner viel aufzuzählen, von den Ereignissen der Nachkriegszeit, die sie teils bitter kommentiert bis zum Stakkato der Geschehnisse in den letzten Jahren, die ja alle miterlebten. Ironisch und zynisch setzt sie die Schlagertitel dagegen, die Gesine Keller dann mit der Gitarre aufgreift, unterstützt von Martina Schott und Barbara Mergenthaler, die mit Schnurrbart und wechselnden Mützen die Männer auf der Bühne repräsentiert.
Während Deutschland in Schutt und Asche liegt, wird weinend der Skandal im Harem besungen, werden die Amis als „Lieblings-​Sieger“ vor allem der Berliner angehimmelt. Mit dem berühmten Koffer in Berlin, dem Heimweh nach dem Kurfürstendamm und dem Insulaner galten drei Hits jener Zeit der belagerten Hauptstadt. Doch es war kein Schnulzenabend, den die vier Damen boten. Mit sehr eigenwilliger Interpretation präsentierten sie die Vorlagen, ließen auch mal das r bedrohlich rollen oder spielten dazu einfach ihre Geschichte und führten dadurch jede Ernsthaftigkeit ad absurdum.
„Die Beine von Dolores“, erst 1951 entstanden, performte Ella Werner zu einer Liebeserklärung an das eigene Bein und aus dem Traumboot der Liebe machte sie einen gesungenen Orgasmus.
Wurde die Auslandssehnsucht der Deutschen 1945 auch jäh getrübt, so musste man eben bereisen, was man nicht besetzen konnte. Ein weiterer Block Nachkriegsschlager galt dem Ausland, von Paris über Pisa bis zum Zuckerhut. „Addio Donna Grazie“ mit dem Koffer unter dem Arm und dem Abschiedswinken rührte fast schon zum Mitweinen, aber Suger Baby gab es als fetzige Tanznummer. Trotz aller Lehrinhalte ließ der Abend nie auch nur einen Hauch von Belehrung spüren, mit Schwung und klangvollen Stimmen führten die Akteurinnen über jede Klippe zwischen Sein und Sollen. Auf die Erwähnung Adenauers folgte „Oh mein Papa“ und der Regierungswechsel 1969 wurde mit „Wunder gibt es immer wieder“ kommentiert.
Während der Ölkrise und den Flugzeugentführungen, Martin Luther Kings und Robert Kennedys Ermordung, PLO, ETA und IRA sang Roy Black „Schön ist es auf der Welt zu sein“ und alle sangen mit. Und während junge Frauen nach Selbstständigkeit streben schallte es aus der Disko „Ich bin so froh, dass ich ein Mädchen bin“. Von 1943 bis 1997 spannten sie ihre Bogen, schossen viele Pfeile ab und trafen meist auch. Sie folgten dem geänderten Musikstil, vom schmachtenden Solo der 50-​er Jahre zum bassdröhnenden Beat unserer Zeit.
Absolut abgefahren und rhythmisch brutal durchgehackt quälte Gesine Keller ihre Gitarre durch Farin Urlaubs „Mach die Augen zu“ – mit dem Kommentar, dass dies nun das Ende der leichten Muse sei: der absolute Schwachsinn. Doch geschickt fingen die Vier das Publikum wieder ein, führten es mit ihren Zugaben behutsam zurück in die Geborgenheit des Schlagers und ließen es bei Marmor, Stein und Eisen vor allem das dam-​dam gefühlvoll mitsingen. Ella Werner gestaltete den Babysitter-​Boogie als heulendes Kleinkind noch zu einem besonderen Schlusspunkt und mit „Schön war die Zeit“ endete der Abend mit einer treffenden Aussage.

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