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Eigenes und Fremdes — zur Einführung ins Thema des Kirchenmusik-​Fetsivals

Fußball oder Soziologie? Wer sich für das Letztere entschieden hatte– und das waren nicht wenige-​, erlebte in der Volkshochschule eine klassische Vorlesung eines profunden Kenners auf diesem Gebiet: „Alle Weltgeschichte ist im Kern Geschichte von Wanderungen“ – mit diesem Zitat aus dem Jahr 1923 von Franz Oppenheimer stellte Prof. Dr. Rudolf Wichard schon mal klare Weichen für seine Ausführungen.

Donnerstag, 14. Juni 2012
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 30 Sekunden Lesedauer

VORTRAG (brd). Die Begegnung mit dem Fremden sei einerseits Herausforderung und Gefahr, stelle sie doch den Eigenwert in Frage. Auf der Suche nach dem Ähnlichen übe das Abweichende aber auch eine große Anziehung aus. Man müsse nur wissen, wohin man gehöre. Heimat als sozialer Begriff sei dort, wo man nicht zu sagen braucht, wer man ist Das habe aber nichts Statisches an sich.
Die Begegnung mit dem Fremden sei heute der Normalfall. Daraus ergebe sich die Grundfrage, wie aus dieser Vielfalt eine handlungsfähige Einheit zu schaffen sei, ohne Eigenständigkeit zu verlieren.
Zuerst räumte Wichard mit einem vor allem im 19. Jahrhundert verbreiteten Mythos auf: die Homogenität von Volk, Kultur und Staat gab es nie. Ethnische Zugehörigkeit habe nichts zu tun mit biologischen Prozessen. Sie sei eine soziale Konstruktion. Er verdeutlichte dies mit dem durchaus ernst zu nehmenden Hinweis, dass eine Nation auch als Gruppe bezeichnet werden kann, geeint durch den Irrtum ihrer Abstammung und die gemeinsame Ablehnung der Nachbarn. Ethnische Identität sei eine Fiktion, sie sei das Ergebnis eines Willensentschlusses und keine biologische Tatsache.
Auch den Mythos um die gemeinsame Sprache galt es in diesem Zusammenhang zu entlarven. Er verwies dabei auf Indien mit 22 Amtssprachen, 190 gesprochenen Sprachen und weiteren 800 Dialekten sowie Englisch als Verkehrssprache. Wenn es die Sprache nicht ist, wenn es um das Eigene geht, um wie viel weniger sind es dann territoriale Gebiete, wo doch alle Völker Europas im eigentlichen Sinne „Zuwanderer“ sind (Ausnahme Basken)?
Die ganze Problematik zeigte er an Nikolaus Kopernikus auf. Ein Deutscher? Ein Pole? Beides sei in seiner Familie angelegt. In beiden Sprachen und natürlich im wissenschaftlichen Latein war er zu Hause. Wichard sprach hier von einer „fluidalen nationalen Identität“ und bescheinigte der europäischen Kultur generell eine „multiple Identität“, bestimmt durch die Großfamilie, die Berufsgruppe bzw. soziale Schicht und die Zugehörigkeit zu einer legitimen Obrigkeit.
Nach dieser „Entmythologisierung“ beschäftigte sich der Redner mit den Begriffen Assimilation und Integration. Am Beispiel der Zuwanderung von polnischen Arbeitern ins Ruhrgebiet um die Jahrhundertwende zeigte er, dass beides gelingen kann, wenn die Zuwanderer im wirtschaftlichen System aufgenommen werden und ihnen für beide Prozesse genügend Zeit bleibe. Viel problematischer sei es, wenn der Assimilation keine Integration folge, wie die Beispiele Nordirland, Jugoslawien und Ruanda zeigten. Schließlich beschrieb er am Beispiel der Amish-​People in Amerika und der Siebenbürger Sachsen, dass es auch ganz ohne Assimilation und Integration gehe, wenn eine Gruppe keinerlei Vorzüge des Landes in Anspruch nehme.
Im Schlussteil widmete sich Prof. Wichard der Frage, welche Kriterien Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens sein müssten?
Er mahnte, die Differenzen zu bewahren, sich in seiner Andersartigkeit nicht „unsichtbar“ machen zu müssen und Gelassenheit und Nüchternheit walten zu lassen. Die Rückbesinnung auf Artikel 3 des Grundgesetzes — alle Menschen sind gleich– sei selbstverständlich. Vorbildlich gelungen bezeichnete er die Konfliktregelung durch intensive Kommunikation, wie sie in Gmünd am Beispiel des Moschee-​Baus verwirklicht wurde. Er beschwor eine Kultur der Toleranz, das Klima der Wärme und der Farbigkeit. Neugier, Empathie und Inklusion seien dafür Grundvoraussetzungen. All diese Kriterien sieht Wichard bereits in den Basisschriften des alten und neuen Testaments angelegt.
Dass Fremdenfreundlichkeit nicht überall zugrunde liegt und selbstverständlich ist, zeigte sein Beispiel aus einer koreanischen Schöpfungsgeschichte. Dort hat Gott die Schwarzen zu lang gebacken, die Weißen zu kurz – nur die Koreaner sind prächtig goldbraun gelungen.

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