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Mexicanidad — die permanente Selbstbefragung

Von einem Querschnitt durch die mexikanische Kunst des 20. Jahrhunderts zu sprechen, wäre vielleicht zu viel. Die „Mexicanidad“-Ausstellung in der Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall setzt vielmehr auf beispielhafte Schwerpunkte. Und dies mit herausragenden Künstlern.

Donnerstag, 07. Juni 2012
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 43 Sekunden Lesedauer

AUSSTELLUNG (rw). Es werden in der Kunsthalle nahe dem Kocher rund 300 Werke gezeigt – es fehlt also nicht an Fülle, wiewohl nur fünf Künstler vertreten sind: Drei, die für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts stehen, Rufino Tamayo und das Paar, ohne das keine Ausstellung mexikanischer Kunst auskommen kann: Diego Rivera und Frida Kahlo. Und zwei Etablierte aus der Gegenwart; Francisco Toledo sowie Adolfo Riestra. Doch damit, das ist der Anspruch der Ausstellung, lasse sich die „Mexicanidad“, die spezifisch mexikanische, sich selbst befragende Identität der jungen und hybriden Nation beleuchten.
Mexiko hat seit seiner Unabhängigkeit von Spanien vor knapp 200 Jahren eine wechselvolle Geschichte erlebt. Erst im 19. Jahrhundert, vor allem aber nach der Revolution gegen den Diktator Porfirio Diaz in jenen Jahren, in denen in Europa der Erste Weltkrieg tobte, entstand ein Bewusstsein dafür, dass es in Mexiko eine autonome vorspanische Vergangenheit gegeben hat. Die spektakulären archäologischen Entdeckungen und Erforschungen der indigenen Völker beförderten das Interesse an den verschütteten Wurzeln. Es entstand das Selbstbild der Mestizaje: Waren die Künstler bislang ausschließlich dem Leitbild des europäischen Kunstgeschmacks gefolgt, kam nun das Interesse für die eigene, in der Regel mestizische Herkunft und die Kulturen der Vorfahren hinzu. Die ideelle und künstlerische Auseinandersetzung mit dem geheimnisvollen indianischen Erbe, das jahrhundertelang durch die ibero-​katholische Tradition überlagert worden war, führte zu einem individuellen Ausdruck. Der europäische Einfluss, vor allem des Surrealismus, blieb gleichwohl unverkennbar – aber hier setzt die Ausstellung einen anderen Akzent.
Frida Kahlo, Diego Rivera, Rufino Tamayo, Francisco Toledo und Adolfo Riestra gelten heuten als Protagonisten der mexikanischen Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Dabei könnten sie unterschiedlicher nicht sein.
Die Farben des Landes, die
den Muralistas
noch entgangen waren
Diego Rivera steht als einer der Hauptvertreter des mexikanischen Muralismo für die in erster Linie sozialpolitisch motivierte agitatorische Malerei der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Kunst seiner 20 Jahre jüngeren Frau Frida Kahlo – wohl die berühmteste Künstlerfigur, die Mexiko jemals hervorgebracht hat – versinnbildlicht Selbstinszenierung als Lebensform. Ihre Arbeiten sind eine Demonstration der Stärke in ihrer Kampfansage an die Leiden, die ihr von Krankheiten geplagter Körper und Rolle als Frau in einer Kultur des Machismo verursachten. Sie lässt ihre Gemälde, die manchmal von so trauriger Schönheit sind, aber auch provozieren, zu „Übersetzern des Schmerzes“ werden, wie es der Schriftsteller Carlos Fuentes formulierte.
Fuentes ist es auch, der Rufino Tamayo für den „mexikanischsten unter den Malern“ hält, „der die Farben des Landes sah, die den Muralistas entgangen waren.“ Er fand als einer der ersten den Mut, die so bedeutsame Bewegung kritisch zu hinterfragen und damit den Weg frei zu machen für die nachfolgende Generation von Künstlern.
Francisco Toledo, indigener Abstammung, und Adolfo Riestra sind nicht mehr nur Erben der jüngsten Vergangenheit, sondern wollen zurückfinden zu den unmittelbaren Ursprüngen der mexikanischen Kultur. Diese schließt die Volkskunst ebenso wie ein vorspanisches und europäisches Erbe ein und ist dabei „alltäglich, brutal und engelsgleich, furchtsam und unschuldig, anheimelnd und befremdend“, meint Fuentes.
Die Haller Ausstellung wird mit mexikanischen Fundstücken aus präkolumbianischer Zeit und mexikanischen Ofrenda-​Objekten kontextualisiert. Es kommt noch weiteres hinzu: beispielsweise Stücke aus Frida Kahlos legendärer Garderobe, die Mittel zur Selbststilisierung und Ausdruck ihrer „Mexicanidad“-Interpretation war.
Porträtfotos von Nickolas Muray zeigen sie in diesen Kleidungsstücken, den „huipiles“, ärmellosen Oberteilen. Nicht zu vergessen die 150 Fotografien aus Kahlos eigener berühmter wiederentdeckter Fotosammlung. Insgesamt kommt die Kunsthalle Würth für diese Schau auf 450 Objekte. 30 davon, Arbeiten von Tamayo, Toledo und Riestra, stammen aus dem Bestand der Sammlung Würth . Alles andere steuern Leihgeber bei, vor allem aus Mexiko und den USA.

„Mexicanidad. Frida Kahlo, Diego Rivera, Rufino Tamayo, Francisco Toledo, Adolfo Riestra.“ Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall, bis zum 16. September. Öffnungszeiten: täglich 11 bis 18 Uhr. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen.

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