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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Als der Weilermer Michael verschwand

Damals war es ein Aufreger. Man könnte gut ein Theaterstück darüber schreiben. Wahrscheinlich würde eher eine Komödie als eine Tragödie aus der Geschichte, wie der Weilermer Michael verschwand.

Samstag, 30. Oktober 2010
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 58 Sekunden Lesedauer

GMÜND-​WEILER. Wäre es in der Nacht zum 1. Mai passiert, man hätte es wohl für einen – zugegebenermaßen sehr groben – Scherz der örtlichen Jugend gehalten. Aber es war die Nacht zum 1. Juni vor genau einem Vierteljahrhundert, als von der Außenwand der katholischen St.-Michaels-Kirche eine Statue verschwand. Gestohlen wurde, schrieb damals die Polizei, obwohl sie mit einem Vorhängeschloss gesichert gewesen sei. Es sollte fünf Jahre dauern, ehe zumindest ein bisschen Licht in die Angelegenheit kam.
Doch zunächst zur Vorgeschichte: Der Hauptaltar in der Weilermer Kirche wird von zwei Seitenaltären flankiert. Sie sind der Gottesmutter Maria bzw. dem Kirchenpatron, dem Erzengel Michael gewidmet. Den Marienaltar ziert eine Statue und Anfang der 60er-​Jahre sammelten Weilermer Bürger, um auch dem Michaelsaltar eine solche Figur zu verschaffen.
In Auftrag gegeben wurde sie bei dem bekannten Hüttlinger Bildhauer Josef Wolfsteiner (1911 — 1978) und zum Patrozinium 1964 weihte Pfarrer Alois Manz den aus Lindenholz geschnitzten, 1,60 Meter hohen Michael. Zwei Jahrzehnte lang „bewachte“ er nun mit Schild und Schwert seinen Seitenaltar.
In der Kirchensprache Latein wird behauptet „de gustibus non est disputandum“ – über Geschmack lasse sich nicht streiten. Der heutige Volksmund ist da völlig anderer Meinung: Ganz trefflich könne man sich mit unterschiedlichen Ansichten aneinander reiben. Speziell bei Fragen der Kunst. Der Michael jedenfalls gefiel den einen sehr gut, anderen dagegen überhaupt nicht.
Nun, wie auch immer: Im Mai 1985 ließ der damalige Pfarrer Bernhard Rapp den hölzernen Michel von seinem Altar entfernen und an der Außenwand der Kirche anbringen. Zum Schutz, so erklären Zeitzeugen, die jedoch noch immer nicht gern über das Thema sprechen, sei das Lindenholz zuvor imprägniert worden. Und ein Dächle habe der Heilige obendrein bekommen sollen, um gegen die Unbilden der Natur gewappnet zu sein.
Diese Aktion ärgerte einige Pfarrkinder offenbar über die Maßen. Nach ein paar Tagen war der Michael – immerhin auch Deutschlands Nationalheiliger – über Nacht von der Wand verschwunden. Die Ermittlungen der Polizei, die den Wert des Diebesgutes mit etwa 2600 Mark angab, verliefen ergebnislos. Fünf Jahre gab es keine Spur von der Figur.
Dann tauchte plötzlich im September vor 20 Jahren beim Kirchengemeinderat – der Pfarrer hatte inzwischen gewechselt – ein Brief auf, der mit „Euer Michael (Erzengel)“ unterzeichnet war. Darin war zu lesen: „Ich bin nämlich nicht gestohlen worden, sondern weitsichtige Menschen haben mich in ihre Obhut genommen und so vor dem sicheren Untergang gerettet.“ Für seine Rückkehr fordere er die Zusicherung eines würdigen Platzes im Inneren der Kirche, was ihm im örtlichen Mitteilungsblatt bestätigt werden solle.
Dies blieb aus, so dass sich „Euer Schutzpatron Sankt Michael“ Anfang Oktober direkt an die Gemeindemitglieder wandte und bat „Setzt Euch für mich ein“. Als das auch nichts half, ging ein Brief an die Gmünder Kriminalpolizei, in dem der „Heilige“ seinen Aufenthaltsort bekannt machte. Er erwarte die Polizisten in der Heuhütte links der Straße zwischen Dinkelackerkurve und Furtlepass.
Kurz darauf wandte sich „Erzengel Sankt Michael“ dann schriftlich an die Rems-​Zeitung. Er schilderte seinen Lebenslauf, seine Ausquartierung und „Flucht“. Derzeit befinde er sich wider seinen Willen in Schutzhaft in der Polizeistation Bettringen. Der Brief schließt mit der lakonischen Frage „Was bringt mir die Zukunft: Den Scheiterhaufen? Das Hackbeil? Den staubigen Kirchenbühnenboden?“
Die Polizei, die nach wie vor keine Hinweise auf die Verantwortlichen für das Verschwinden der Figur erhalten hatte, gab den Michael bald darauf den Eigentümern zurück. Doch die Kirchengemeinderäte wollten ihn nach wie vor nicht wieder ins Innere des Gotteshauses stellen. Zumal es ja eine Darstellung des Erzengels in St. Michael gab: Das klassizistische Gemälde von 1834, das bis 1876 sogar als Hochaltarbild gedient hatte.
Nochmal an die Außenwand hängen kam nach der Aktion von 1985 wohl auch nicht in Frage. Und so verloren sich die Spuren der Michaels-​Skulptur für weitere fünf Jahre im Nebel. Erst 1995, als das neue Heimatbuch über Weiler in den Bergen erschien, gab es einen neuen Hinweis. Im Kapitel über die Kirchengeschichte wird kurz auf die komplizierte Vergangenheit der Skulptur angespielt und dann erklärt, Pfarrer Burkhard Keck habe dem Heiligen Unterschlupf im Bargauer Pfarrhaus gewährt. Dort allerdings „wohnt“ der hölzerne Michel inzwischen auch nicht mehr, wie die Rems-​Zeitung im Telefonat mit dem jetzigen Hausherrn, Pfarrvikar Daniel Psenner, erfuhr.

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