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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Werner Debler arbeitet an einem neuen Buch: „Geschenkte Heimat“, in dem er das Landeswaisenhaus in Gmünd vorstellt

Unter dem Titel „Geschenkte Heimat“ erarbeitet Seminardirektor a.D. Werner Debler die Geschichte des Landeswaisenhauses Schwäbisch Gmünd. Wie viel Arbeit damit verbunden ist, lässt alle ungläubig staunen, die dieses Projekt verfolgen. Erhielte Debler auch nur einen Mindestlohn für die Zeit, die er investiert, sein jüngstes Buch wäre wohl kaum bezahlbar.

Dienstag, 09. November 2010
Rems-Zeitung, Redaktion
4 Minuten Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (bt). Werner Debler hat rund 500 Schülerausfsätze gelesen und in jeweils stundenlangen Interviews 20 Biografien ausgewählter Waisenkinder erarbeitet, um den Kindern und Jugendlichen, die von 1934 bis 1957 im heutigen Seminargebäude bzw. im Polizeirevier lebten, ein Gesicht zu geben. Buchstäblich. Jedem der vier Direktoren und der von ihnen geprägten und bestimmten Jahre ist ein eigenes Kapitel gewidmet, ebenso der Vorgeschichte und der weiteren Entwicklung der „Alten PH“, in der so vielen Kindern einst nach Kräften ein Zuhause geschenkt wurde.
In einer Zeit, in der vielfach von unglaublichen Misshandlungen und von sexuellem Missbrauch in vergleichbaren Einrichtungen die Rede ist, nehmen sich die Schilderungen der Gmünder Waisenkinder — Voll– und Halbwaisen, aber auch Kinder aus „Problemfamilien“ — wie Berichte aus einem Ferienlager aus: Auch hier wurde gestraft, auch hier gab’s eine ungeliebte Lehrerin, die mit Schlägen allzu freigiebig war, ebenso aus heutiger Sicht pädagogisch unsinnige Maßnahmen — aber bestimmendes Gefühl der von Debler Befragten ist Dankbarkeit.
Ein Mann vermisste Liebe, Zuwendung und eine Vaterfigur; er war es auch, der Debler von einer traumatischen Erinnerung erzählte: „Wenn wir am Freitagmorgen die Betten abziehen mussten, war immer eine Erzieherin dabei. Schlimm war es, wenn man im Laufe der Woche ins Bett gemacht hatte. Vor lauter Angst hatte ich einmal sogar die Ränder meines nassen Leintuchs nachts wieder trocken gerieben, damit die Erzieherin nichts merken sollte. Aber diese hielt einfach mein Leintuch vor das Fenster – und schon hatte sie den Urinfleck entdeckt. Sie schimpfte mich heftig. Aber die schlimmste Strafe folgte noch: Ich musste, zusammen mit den anderen ‚Sündern’, im Speisesaal vorne stehen und gegen die Wand blicken. Außerdem bekam ich an diesem Tag nur trockenes Brot zu essen. Wer vorne stand, der schämte sich, weil alle anderen auf ihn schauten. Es waren immer mehrere Kinder, die auf diese Weise am Freitagabend, aber auch die Woche danach, bloßgestellt wurden. Da nützte es auch nichts, wenn man zur Erzieherin sagte, dass man nachts aus Angst nur ‚geschwitzt’ habe.“
Lilli Staudinger geb. Scheckenbach und Gerda Ebinger hingegen haben überwiegend gute Erinnerungen ans Heim; Staudinger etwa erwähnt, dass sie nie einen Lehrer oder einen Erzieher in Wut gesehen hat. Alle gemeinsam erinnern sich an Fußballspiele und Puppentaufen und die Teilnahme am Seifenkistenrennen. In Aufsätzen hielten die Jungen und Mädchen fest, was ihnen gefiel, was sie verändern würden, auch „was mir am Waisenhaus nicht gefällt“. Und das sind dann eben in erster Linie nicht Misshandlungen und Willkür, sondern dass die Haare lang getragen werden mussten oder kurz, dass bei einer bestimmten Erzieherin der Spaziergang so kurz ausfiel oder dass in den Duschräumen nicht gesprochen werden durfte — ganz normale Klagen ganz normaler Kinder halt
Wie Werner Debler zu seinem neuesten Werk kam
Werner Debler hat viele Geschichten zusammengetragen, die zu erzählen sich lohnt. Etwa von den Arbeitseinsätzen in den Vakanzen, also in den Ferien, oder von der Zuwendung der Amerikaner nach dem Krieg — die Fahrräder und Leckereien verschenkten und den jungen Heimbewohnern so manche schöne Stunde bescherten. Und wie war das, als Waisenhauszöglinge zu den Krönungsfeierlichkeiten nach England reisen durften? Einmal kam eine Frau nach Gmünd, die ihr Kind abholen wollte. Sie war viele Tage unterwegs gewesen, kam aus der Ostzone und hatte ihren Jungen, Klaus, in einer Annonce des Roten Kreuzes wiedererkannt: „Wir ließen die Frau bei uns übernachten“, berichtet die Tochter des damaligen Direktors: „Am nächsten Morgen ging Papa mit ihr ins Zimmer von Fräulein Wagner, wo der Kleine noch in seinem Kinderbettchen spielte. Als er die Frau sah, starrte er sie minutenlang an und sagte dann plötzlich ‚Mama’! Es war unglaublich, mitzuerleben, was da im Gehirn dieses Kindes vorging. Die Frau blieb noch ein paar Tage im Waisenhaus und verließ uns dann mit ihrem kleinen Jungen. Das war schön, aber auch bitter.“
Nicht wenige Heimkinder haben’s zu etwas gebracht. Fritz Quoos etwa, der später Lokalchef der Rhein-​Neckar-​Zeitung, oder Dr. Peter Steinle, der eng mit Hans-​Martin Schleyer zusammenarbeitete. Steinle, der damals das Gymnasium besuchte, durfte auch nach dem Umzug des Landeswaisenhauses 1957 nach Esslingen bis zum Abitur in Gmünd bleiben.
Debler konnte die Akten aller von ihm Befragten im Staatsarchiv einsehen und gewann so allmählich ein detailliertes Bild des Waisenhauses und seiner Kinder. Licht und Schatten zeichnet er in seiner Arbeit, den Alltag im Wandel der Zeit. Und wie immer, wenn sich jemand so intensiv mit einem Thema beschäftigt, stellte sich heraus, dass eine differenzierte Sicht der Dinge zwar mühsam und zeitaufwändig ist, in jedem Fall aber lohnend. So war der „Nazi“ unter den Direktoren auch derjenige, der alles daran setzte, seine Zöglinge in Lehrstellen zu vermitteln und ihnen somit die Grundlage für ein gutes, ein erfolgreiches Leben mitzugeben.
Es war 2005, als Debler, damals noch Seminardirektor, im Hof des Gmünder Realschullehrerseminars ein älterer, gut gekleideter Mann auffiel, der auf einer Bank im Park saß und unablässig das Gebäude ansah. Dieser Mann erzählte von der Zeit, die er zwischen 1940 und 1944 hier verbrachte, von guten und schlechten Erinnerungen. Aus diesem ersten, fast zweistündigen Gespräch reifte Deblers Vorsatz, der traurigen Kindheit und dem bewegten Leben dieses ehemaligen Zöglings im Landeswaisenhaus ein Denkmal zu setzen, ebenso all den anderen, die hier einst so etwas wie ein Zuhause fanden. Debler selbst erinnert sich übrigens persönlich an diese Einrichtung: „Bereits als Grundschüler fielen mir Ende der Vierzigerjahre des letzten Jahrhunderts die Waisenkinder auf, die mit ihren blaugrauen Samtkitteln, ihren kurzen, dunkelgrauen Hosen und in ihren Kleiderschürzen in Zweierreihen mit ihren Erzieherinnen durch die Stadt marschierten“. Nach insgesamt zwei Jahren intensiver Arbeit wird Werner Debler seine Arbeit voraussichtlich im Mai nächsten Jahres abschließen. Bereut hat er es nie, diese Aufgabe in Angriff genommen zu haben: „Wenn das Herz ja sagt, kommt nur Gutes heraus“, sagt Debler. Sein Ziel sei es, andere sehend, erlebend zu machen und zur Reflexion zu bringen, Bewusstsein schaffen, „denn Zukunft braucht Herkunft“. Und Lebensfreude und Anstrengung gehörten nun mal zusammen. Man darf gespannt sein auf die Früchte seiner Arbeit.

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