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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Vergleich der Sturm– und Drangzeit in der Literatur mit den heutigen Verhältnissen

„Individualität in der Literatur des Sturm und Drang aus heutiger Sicht“ lautete der Titel eines Vortrags von Professor Joachim-​Rüdiger Groth in der Senioren-​Hochschule der PH.

Montag, 20. Juni 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
2 Minuten 18 Sekunden Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (pm). „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum! Pfui über das schlappe Kastratenjahrhundert, zu nichts nütze, als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen.“ Das sind einige der Verwünschungen, die Karl Moor über seine Zeit äußert. Es ist das 18. Jahrhundert. Und Karl Moor ist der Held in Schillers Drama „Die Räuber“. Er verwünscht die politischen Verhältnisse, die ihm keine persönliche Freiheit geben. Deshalb kämpft er gegen Fürstenwillkür, obrigkeitsstaatliches Duckmäusertum und gegen die Unterdrückung des Einzelnen.
Groth stellte viele Beispiele vor, wie im 18. Jahrhundert, vor etwa 240 Jahren, Dichter in ihren Werken Individualität für die Menschen forderten. Individualität bedeutet, sein eigenes Ich frei leben zu können. Dramen, Gedichte und andere Schriften mit dieser Absicht fanden damals große Verbreitung. Sie beeinflussten das Verhalten sowohl der Fürsten wie auch ihrer Untertanen. Die Obrigkeit versuchte, die Dichter zum Schweigen zu bringen. Schiller musste aus Stuttgart fliehen, weil er gegen das Schreibverbot verstoßen hatte. Christian Friedrich Daniel Schubart, in Obersontheim geboren, wurde wegen seiner kritischen Texte von Herzog Karl Eugen 1777 auf württembergisches Gebiet gelockt und für zehn Jahre ohne Gerichtsverfahren in die Festung Hohenasperg verschleppt.
Das waren die Verhältnisse, gegen die Schiller, Goethe, Klinger, Bürger, Schubert und viele andere aufbegehrten. Professor Groth wies nach, wie gut es die Autoren verstanden, als Zeugen ihrer Zeit in den Dichtungen die Einschnürung der Individualität durch die Politik erlebbar zu machen. Das Individuum war Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Goethes „Götz von Berlichingen“ pochte auf sein Naturrecht gegen Fürstenwillkür. Er scheiterte wie andere auch; aber die Idee lebte fort. Werther in dem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“, auch von Goethe, sah keinen Ausweg. Er nahm sich das Leben. In „Kabale und Liebe“ von Schiller geht es um das Verprassen von Abgaben der Untertanen für Mätressen. Und es geht um Standesunterschiede als unüberwindbares Hindernis zwischen Liebenden. Die „Geniezeit“, wie der Sturm und Drang auch genannt wurde, war die Reaktion auf das Zeitalter der Aufklärung. Natürliches Leben war angesagt. Ohne Dogmen und menschenfeindliche Gesetze.
Wie angekündigt schlug Prof. Groth einen Bogen zu heute. Was ist besser geworden? Sein Befund war ernüchternd. Die innige Beziehung zur Natur im Sturm und Drang ist heute vorwiegend reinem Nützlichkeitsdenken gewichen. Begriffe wie Ökologie, Erholungsfaktor, Biosprit, Biogas, Massentierhaltung, CO2-​Speicher und viele andere weisen auf das Profitstreben hin, dass der Mensch heute mit dem Begriff „Natur“ verbindet. Die Natur ist weitgehend Gebrauchsgegenstand und Produktionsmittel in der öffentlichen Diskussion. Das ändern auch Biotopreservate nicht.
Normen, Vorschriften, Gesetze bestimmen trotz gegenteiliger Versprechen unseren Alltag. Die Bürokratie hat den Absolutismus des 18. Jahrhunderts ersetzt. Der Bürger fühlt sich nur noch als Stimmvieh. Echte Probleme, die uns betreffen, werden ohne uns entschieden; denn die getroffenen Entscheidungen sind „alternativlos“. Die Abgaben der vielen Steuerzahler landen nur zu oft in dunklen Kanälen.
„Der Steuerzahler muss bluten“, hieß es dieser Tage in einer überregionalen Tageszeitung. Dass die „Finanzminister sich nicht an die in Verträgen und Institutionen beschlossenen Regeln gehalten haben“, hieß es weiter. Heute ist Repression durch Manipulation ersetzt worden. Der Bürger hat dieses System durchschaut und übt zunehmend Kritik. Prof. Groth zog aus alledem die Bilanz: Auch 240 Jahre nach dem Sturm und Drang ist Individualität en gefährdeter Wert, den jede Generation neu erkämpfen und verteidigen muss.

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