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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Zur Erinnerung an eine Hecke: Die Familien Solleder und Bühler lebten mit Gleichgesinnten nach Möglichkeit das Ideal vom „natürlichen Leben“

Es gab eine Zeit, in der sich der Schurrenhof selbst versorgte, von und mit Wasser, Licht, Luft, Erde und Früchten lebte — und die Außenwelt mit einer Hecke schützen musste.

Samstag, 13. August 2011
Rems-Zeitung, Redaktion
4 Minuten Lesedauer

GMÜND-​RECHBERG (bt). Es war in Frankreich, im Stellungskrieg, jenem entsetzlichen Schlachten, das dem Wort Krieg eine neue Bedeutung gab: Damals trafen sich Hermann Bühler und Willo Rall, beide gleichermaßen Soldaten und Maler, die Kriegsszenen verewigten; das half ihnen, sagten sie, bei Verstand zu bleiben. Das und ihre Träume vom „Danach“. Wenn sie das alles überleben sollten, würden sie eine Künstlerkolonie aufbauen, so nahmen sie sich vor. Ein Refugium, die Möglichkeit, so zu leben, wie es ihnen gefiel, in gottgegebener Natürlichkeit nämlich. Als Rall dann tatsächlich 1919 in Falschengehren die Künstlerkolonie „Runheim“ gründete, schloss sich ihm Hermann Bühler an. Aber das Runheim-​Experiment scheiterte nach einigen Jahren. Ralls blieben alleine zurück. Die Bühlers zogen weiter, immer auf der Suche nach einem schwäbischen Worpswede – jener Kolonie deutscher Impressionisten und Expressionisten, die es allesamt nicht mehr aushielten in der Stadt und die romantische Vorstellungen von bäuerlicher Idylle und einfachem, naturnahem Leben pflegten. Künstler und Philosophen wie Gusto Gräser und Ernst Fuhrmann wiesen ihnen den Weg. Schließlich hörten sie, dass andere ihre Ideale teilten, auf dem Vogelhof bei Hayingen etwa und im Haus am grünen Weg in Urach. Und auf dem Schurrenhof. Hier ließen sich Hermann Bühler und sein „Emmele“ nieder, und von Anfang bis zum Schluss waren sie Teil eines bemerkenswerten Experiments. 1928 hatten Karl Solleder und seine Frau Luise den Schurrenhof gekauft und begannen sofort damit, Gleichgesinnte um sich zu scharen. Ein großes Stück Land wurde parzelliert; jede Familie sollte sich damit selbst ernähren. Daraus wurde nichts: Sie haben das Land gemeinsam bewirtschaftet und eine Gärtnerei angelegt. Autark wollte man sein, unbedingt, also haben sie auch Lein angebaut, dessen Fasern auf eigenen Webstühlen zu groben Stoffen verarbeitet wurden; diese Kutten waren bald ebenso Markenzeichen der „Schurrenhöfler“ wie die selbst gemachten Schuhe. Bühler war der einzige Maler, aber es wurde viel musiziert. Abend für Abend erklang ein halbes Dutzend Streichinstrumente, und natürlich wurde viel gesungen. Der Bruder des Chefs, Prof. Fritz Solleder, hat ein Lied für die frühen „Alternativen“ geschrieben: „Wo leuchtet auf den Bergen /​der Sonne goldner Strahl /​da schaut von stolzer Höhe/​der Schurrenhof ins Tal“, und „Wenn nach des Tages Arbeit /​der Mond am Himmel scheint /​dann sind in froher Runde /​wir allesamt vereint. Den Wandrer, der im Tale /​gar still des Weges zieht /​ihn grüßt mit hellem Klange /​vom Berg herab das Lied.“ In diesen ersten Jahren wurde alles versucht, ein Leben im Einklang mit der Natur zu verwirklichen: Bewegung an der frischen Luft etwa, Freikörperkultur sowie die fleischlose Ernährung. Religion wurde abgetan, und wie ernst Karl Solleder die von einigen Vordenkern geforderte Ablehnung der Ehe nahm, wurde deutlich, als er sich neu verliebte und Luise und die beiden Töchter Elfriede und Dorelies verließ, um mit der jungen Liesel Hacker zu leben und mit ihr Sohn Faust und Tochter Ertraud zu zeugen. Solche Dramen spielten sich immer und überall ab, aber in diesem Fall lebten alle unter dem selben Dach, woran die abgelegte Familie beinahe zugrunde ging. Ertraud starb in jungen Jahren, und irgendwann war das Naturparadies plötzlich keines mehr. Hermann, den sie Fried nannten, und das Emmele waren sich freilich in herzlicher Zuneigung zugetan. Sie war Lehrerin und unterrichtete die auf dem Schurrenhof lebenden Kinder, die man dem Schulsystem nicht anvertrauen mochte. Sohn Frowin konnte später sehr anschaulich davon erzählen. An seinem ersten Lehrtag in einem Gartenbaubetrieb hat man ihm Jahre später zum Vesper ein Krügle Most und einen Teller Hausmacherwurst vorgesetzt – einem, der noch nie Alkohol getrunken, noch nie Fleisch gegessen hatte. Ihm war dann so schlecht und so schwindelig, dass er rücklings ins gläserne Frühbeet gefallen ist. Das musste er lange hören, sehr lange. Es gibt Rechberger, die ihr Lebtag nicht vergessen haben, dass die drüben auf dem Schurrenhof manchmal nackig die Felder bestellt haben – nichts sollte zwischen sie und die viel gepriesene Luft kommen, den Wind und die Sonne. Die Magd eines Nachbarhofes, die das bunte Völkchen irgendwie mochte, machte es sich zur Angewohnheit, laut zu schellen, wenn der Dorfpolizist wieder Richtung Schurrenhof zog — so erzählt man sich zumindest. Dennoch hat er sie immer wieder nackt erwischt und dann in eine kleine Zelle im heutigen Rechberger Bezirksamt gesperrt. Als das allen Beteiligten zu dumm wurde, erhielten Solleder, Bühler und ihre wechselnden Mitbewohner die Auflage, eine Blicke abwehrende Hecke rund ums Gelände zu pflanzen. Und Gucklöcher in diese Hecke zu bohren, wurde alsbald beliebte Freizeitbeschäftigung der Rechberger Lausbuben. Das alles war in jener Zeit ein ziemlicher Skandal, wenn auch stets anerkannt wurde, dass einige rechtschaffene, „studierte“ Leute da draußen zu finden waren. Und dass die Schurrenhof-​Ware erstklassig war, wurde nie bestritten. Mehr und mehr wurde die Landwirtschaft zugunsten der Gärtnerei vernachlässigt; auf den Wochenmärkten in Göppingen, Geislingen, Heidenheim und Gmünd waren sie bald vertrauter Anblick. Und niemand, so hieß es, habe so gute Tomatensetzlinge wie die vom Schurrenhof. „Du siehst aus wie ein Schurrenhöfler“ Vor und während des Krieges wurden viele der alten Ideale aufgegeben. Karl Solleder war sehr angetan von den Nazis, was ihm, so erinnert sich der Enkel, nach dem Krieg eine kurze Haftstrafe bei den Amerikanern einbrachte. Vor allem aber hat es das gute Miteinander auf dem Schurrenhof vollends zunichte gemacht, wurzelte doch die ursprüngliche Bewegung in einer radikalen Ablehnung von Krieg und Gewalt. Wieder zogen die Bühlers weiter, wurden schließlich, ebenso wie die Familie Solleder richtiggehend bürgerlich. Die Schurrenhof-​Gärtnerei war ein großer Erfolg und nach und nach entstanden das große Ferienzentrum und die Isländerzucht, was maßgeblich der dritten Generation zu verdanken ist. Hermann Bühler verdiente später sein Brot als Lehrer in Gruibingen. Sohn Frowin, der an der Göppinger Berufsschule Gartenbau unterrichtete, hat zeitlebens alles gehasst, was mit „Anthroposophen und anderen Weltverbesserern zu tun“ hatte. Doch auch ihn hat die Kindheit fürs Leben geprägt. Der Schurrenhof blieb lange unvergessen. Der Gmünder Reinhold Krämer, dessen Vater einst aus echtem Interesse während eines Urlaubs auf dem Schurrenhof gearbeitet hatte — im „Geschäft durfte das niemand wissen“ — erzählt, dass noch in den späten 60ern, als junge Männer um jeden Millimeter Haarlänge kämpften, ein „Du siehst aus wie ein Schurrenhöfler“ auf dem Rechberg durchaus drin war. Vieles ist in Vergessenheit geraten, die meisten Zeugnisse der 20er und 30er Jahre sind beim großen Schurrenhof-​Brand 1960 in Rauch aufgegangen. Was bleibt, ist die Erinnerung an Familien, die ihre Träume wahr gemacht haben.

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