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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Wie der Krönungsmantel der Schatzkammer in Wien nachgebildet wird

Wie viele Stiche braucht es, einen Knopf anzunähen? Zehn, in schwierigen Fällen 20? Solche Überlegungen helfen, vor Augen zu führen, was der Stadt mit dem Krönungsmantel geschenkt wird: Dieser ist wesentlicher Bestandteil eines Kronschatzes, der seinesgleichen sucht; unter anderem sind über 110 000 Staubperlen anzunähen.

Montag, 15. Juli 2013
Rems-Zeitung, Redaktion
4 Minuten Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (bt). Völlig utopisch, so war klar, den Krönungmantel bis zum Stadtjubiläum fertigzustellen. Allein die Goldstickerei, von der sechsstelligen Zahl der anzunähenden Perlen ganz abgesehen, so ließ sich abschätzen, würde die Freiwilligen viel länger beschäftigten – selbst wenn sie fast jede freie Stunde opferten. Wunschziel ist freilich die Landesgartenschau.
Als erster Schritt wurde der Krönungsmantel in Originalgröße gedruckt; somit stand allen Beteiligten gleichsam der fertige Mantel vor Augen. Nachdem Dennis Ermert – spezialisiert auf das Digitalisieren von Stickprogrammen zur Steuerung von Stickmaschinen – sich selbst in Wien Eindrücke mittels Makroaufnahmen besorgt hatte, fand eine eingehende Besprechung in der Gewandmeisterei mit Stephan Kirchenbauer, Alexander Groll, Gundi Mertens, Annemarie Engelhardt-​Nuss und Peter Deiniger von der Firma Alraune statt. Der erste grobe Plan wurde verfeinert und Zuständigkeiten übertragen. Alle Farben, ganz gleich ob bei Stoff, Stickgarn oder Emailarbeiten, basierten auf subjektiver Einschätzung – als mit dem Projekt begonnen wurde, gab es keine Möglichkeit, den Mantel außerhalb der Vitrinen, die mit indirektem Kunst-​Licht ausgestattet sind, eingehend zu besichtigen. Der große Bauplan beinhaltete eine linke Hälfte und eine rechte Hälfte des Mantels, eine Mitte, den Saum mit Ornamenten und der kufischen Schrift – frühe Form der heutigen arabischen Schrift.
Da es sich um eine Freihandzeichnung handelte, linke und rechte Hälfte nicht bildgleich waren, musste jede Hälfte für sich erstellt werden: Die Ohren der Löwen und das Maul der Kamele etwa sind unterschiedlich, oder es wurden auch Teile wie eine Rosette am Ellenbogen des linken Löwen beim rechten Löwen weggelassen. Es entstand ein gigantisches Puzzlespiel, erinnern sich alle Beteiligten. Die „Aufdröselung“ war so wichtig, weil mehrere Personen gleichzeitig am Mantel arbeiten würden und sich verlässlich an diesem Raster orientieren mussten.
Die Replikation besteht aus schwerer roter Seide, deren Farbe mittels eines Lippenstift-​Abdrucks bestimmt wurde, der direkt in der Schatzkammer in Wien abgeglichen worden war. Auf das Original-​Material musste verzichtet werden, da diese Stoffe heute nicht mehr hergestellt werden. Gundi Mertens fand in der Kollektion einer alteingesessenen Seidenweberei aus Italien einen 360 Gramm pro Quadratmeter schweren Seidenstoff, der dem Lippenstift-​Farbton entsprach. Die Süßwasserperlen im passenden Farbton konnten bei der Gmünder Firma Alraune beschafft werden; Emailplättchen und Goldarbeiten wurden ebenfalls von den Goldschmieden Engelhardt-​Nuss repliziert. Echte Goldfäden konnten nicht für die Maschinenstickerei eingesetzt werden; Dennis Ermert fand ein Luxusgarn im passenden Farbton.
Das Erstellen eines Stickprogramms zur Steuerung der Stick– oder Jacquard-​Maschinen wird seit der Lochkarten-​Ära als „Punchen“ bezeichnet. Das Punchen für den Krönungsmantel war große Herausforderung, denn im Gegensatz zu sonst gleichmäßig erwünschtem Stickbild, war hier eher eine unregelmäßige Stickfläche das Ziel – schließlich war der Mantel ja in Handarbeit hergestellt worden. Besonders wurde auf unterschiedliche Sticharten und Stichrichtungen geachtet. Das Punchen ging Segment für Segment vonstatten: Es wurde ein regelrechter Bauplan erstellt, denn die Motive des Mantels konnten nicht in einem Stück gestickt werden. Ausschlaggebend für die Größe eines Segments waren die technische Machbarkeit der Maschine, sowie das Motiv selbst. Dass die Puzzlestücke so perfekt zueinander passten und die Fugen vollständig von den noch aufzunähenden Perlschnüren abgedeckt werden, ist eine Meisterleistung Ermerts. Das Gewebe musste zur Stabilisierung mit Vlies unterlegt werden. Besonders diffizil war die Anfertigung des runden Saums mit der Schrift. Ein Viertel-​Kreis wurde immer wieder durchgeschleppt und neu angesetzt und alle Teile sinngemäß bezeichnet und nummeriert, damit das anschließende Aufbringen auf das Trägermaterial möglich war. Trotz des Einsatzes moderner und sehr schnell arbeitender Maschinen dauerte die Stick-​Arbeit wochenlang.
Nach eingehender Besprechung mit Iris Geiger, Gundi Mertens und Christine Schreg wurde der Mantel mit großem Herzklopfen zugeschnitten, weil man sich der Kostbarkeit des Stoffes bewusst war. Zugeschnitten wurde eine komplette Grundform des Mantels als Trägermaterial, auf dem die vielen goldbestickten Einzelteile später so aufgequiltet werden sollten, dass sie als Ganzes schienen.
Der Rest des Stoffes wurde gemäß dem Bauplan in Einzelsegmenten zugeschnitten. Eine besondere Herausforderung dabei war, besonders auf den Fadenlauf des Stoffes zu achten. Bei nicht Einhaltung würden später ungewollte Schattierungen auftreten. Außerdem musste genügend Zugabe an allen Schnittflächen zugegeben werden, um den Verzug auszugleichen oder den Spielraum für Übergreifflächen zu gewährleisten.
Eine mögliche Übersetzung der Kufischen Schrift lautet: „Dieser Mantel gehört zu dem, was in der königlichen Werkstatt gearbeitet wurde, in der das Glück und die Ehre, der Wohlstand und die Vollendung, das Verdienst und die Auszeichnung ihren Sitz haben, hier in der königlichen Werkstatt, die sich guter Aufnahme, herrlichen Gedeihens, großer Freigebigkeit und hohen Glanzes, Ruhmes und prächtiger Ausstattung und der Erfüllung und Hoffnungen erfreuen möge; hier, wo die Tage und Nächte im Vergnügen dahingehen mögen, ohne Ende und Veränderung; im Gefühl der Ehre, der Anhänglichkeit und fördernden Teilnahme im Glück und in der Erhaltung der Wohlfahrt, der Unterstützung und gehörigen Betriebsamkeit (..)“
Das Team um Ute Bundschuh schenkte und schenkt mit das Kostbarste, was Menschen zu geben haben: Zeit, richtig viel Zeit. Zunächst wurden von Januar bis Oktober 2012 die goldenen Stickapplikationen aufgequiltet. Dann ging’s an die über 110 000 Perlen. Große Hilfe für das Aufbringen der Perlenschnüre ist ein tonig zum Grundstoff aufgebrachter Heftstich. Da die Perlenschnüre in zwei bis drei Lagen nebeneinander aufgebracht werden müssen, verschwinden die „Hilfslinien“ im Laufe der Perlenstickarbeit. Zu den Stickerinnen gehören Hildegard Bergander, Ingrid Rix, Kerstin Plischke, Antje Speer, Elisabeth Müller, Christa Jäger, Barbara Gottwik, Ute Bundschuh und Petra Sommer. 196 Meter Perlen sind anzubringen, „mehr als ein Viertel, weniger als ein Drittel ist geschafft“, erklärte Ute Bundschuh. 38 große oder 50 bis 52 kleine Perlen ergeben zehn Zentimeter, bei den großen Perlen werden für 25 Zentimeter um die 40 Minuten benötigt. Traumziel für die Fertigstellung sind die Staufertage der Landesgartenschau: „Das könnte möglich sein“; in jedem Fall aber wird es eine Präsentation geben wie dieser Tage im Prediger. Die RZ wird diese Arbeiten weiterhin begleiten.

Hintergrund: Der Krönungsmantel

Der Krönungsmantel zählt wie Reichskrone und Reischschwert zu den Insignien des Heiligen Römischen Reiches und damit zu den bedeutendsten Ausstellungsstücken der Weltlichen Schatzkammer in der Wiener Hofburg.
Nach islamischer Zeitrechnung 528, nach dem gregorianischen Kalender im Jahre des Herrn 1133/​34 entstand das Original in der königlichen Werkstatt in Palermo: Es handelt sich um einen halbrunden Radmantel mit 342 cm Durchmesser.
Bei dem Originalmaterial handelte es sich um Seidenbrokat mit Kettfäden aus naturfarbenen Leinen. Eine Vielzahl von Kunsthandwerkern und Künstlern waren mit diesem Kleidungsstück beschäftigt, so viel steht fest. Der Mantel ist mit reichlich Goldfaden bestickt, mit Einlegearbeiten aus Emailplättchen verziert, mit Perlen umlegt und verziert sowie mit Saumabschluss in ornamentaler Brettchen-​Weberei versehen.
Das Motiv des Mantels ist wie folgt beschrieben: Zwei spiegelbildlich dargestellte Löwen, jeder ein Kamel schlagend, in deren Mitte sich eine stilisierte Palme in Art eines Lebensraums erhebt. Diese ornamentalen Stickereien sind Ausdruck königlicher Macht

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