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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Eine Reise ins Rokoko: Neue historische Petticoat-​Tanzgruppe /​Zwei Kleider sind fertig

Schon erstaunlich, was im nächsten Jahr alles zu erleben ist in Gmünd. So entsteht eine Rokoko-​Tanzgruppe rund um das Ehepaar Schneider, die es auch noch geschafft hat, die Landesgartenschau um den „Tag der Breitensport-​Formationen“ zu bereichern.

Montag, 22. Juli 2013
Rems-Zeitung, Redaktion
4 Minuten Lesedauer


SCHWÄBISCH GMÜND (bt). Mal ehrlich: Welche Frau hat noch nicht geträumt von einem solchen Kleid. Acht Meter Stoff für eine einzige Robe, deren Röcke auch schon mal einen Umfang von über drei Metern aufweisen – das sprengt das Fassungsvermögen jedes Türrahmens. Schnürbrust und Stahlstäbe werden in Kauf genommen. Spitze und Brokat verarbeitet, sogar Mutters beste Samt-​Vorhänge – wie in jener unsterblichen „Vom Winde verweht“-Szene. Sabine Schneider und Rita Plutz haben sich solche Kleider genäht und arbeiten an weiteren Modellen, unverzichtbarer Bestandteil der Tanzgruppe, die derzeit entsteht.
Sabine und Dieter Schneider, Tanzsporttrainer und passionierte Tänzer, leiten und unterrichten von Haus aus die Standard/​Latein-​Abteilung im Tanzclub Petticoat, widmen sich freilich auch anderen Tanzarten, ganz aktuell auch Tänzen aus der Rokokozeit, hauptsächlich zur Musik von Mozart. Bereits seit Anfang des Jahres wird in der Rauchbeinturnhalle konzentriert aber auch mit viel Freude geprobt. Die Tänze sind zum Teil Originalchoreographien aber auch neu zusammengestellte Tanzabfolgen nach historischem Vorbild.
Es wird unterschieden zwischen den sogenannten „Anglaisen“ – die Paare tanzen dabei in einer Gasse – und klassischen „Quadrillen“, oder auch zwischen Tanzformen für sechs und acht Paare, „Douze“ oder „Seize“ genannt. Überhaupt war und ist französisch die Tanzsprache schlechthin; entsprechend sind den Tanzpaaren mittlerweile Begriffe wie „Pas de Bourree“, „Assemble“ und „Balance“ geläufig, die als Ansage immer wieder durch die Halle schallen. Selbst die Tänze tragen französische Namen wie „La Zelie“, „La visite“ und „Le petit rien“. Das Trainerpaar Schneider fuhr im Februar nach Innsbruck, um sich bei Verena Brunner, Spezialistin für Tänze aus der Rokokozeit, ausbilden zu lassen. Eine weitere feste Größe in diesem Tanzgenre ist Tanzmeister Peter Hofmann aus Nürnberg. Auch bei ihm wurden Fortbildungen besucht.
Recht bald stellte sich die Frage nach der passenden Kleidung, erinnert sich Sabine Schneider. Und sehr schnell war auch abzusehen, wie schwierig es wird, die gesamte Truppe einzukleiden: Mit etwa 1000 Euro pro Robe sei zu rechnen, erklären Trainerin Sabine Schneider und ihre Schwester Rita Plutz, die dann gezeigt haben, wie es auch anders geht. Teuer sind nicht nur die edlen Stoffe – ganz ernsthaft wurde ein Prunk– Vorhang verarbeitet –, sondern vor allem die Arbeitszeit: „Eine versierte Schneiderin näht mindestens 20 Stunden an einem solchen Kleid.“ „Das machen wir selber“, lautete nun die Devise. Die zwei Frauen informierten sich über die Mode der damaligen Zeit und setzten sich anschließend an die Nähmaschine, wie sie es bei der Mama gelernt haben. Und das Ergebnis kann sich sehen lassen
Zunächst wurde die Unterkleidung genäht – diese besteht nicht nur aus dem Rockunterbau, sondern auch aus einer mit Stahlstäben verstärkten Schnürbrust. Keiner hat gesagt, dass es bequem sein muss, dem Schönheitsideal zu entsprechen. Bis die Büste tatsächlich aus dem Dekolleté quillt, muss heftig geschnürt werden. Die sogenannten Poschen sorgen dann für die im Rokoko charakteristische breite Hüfte, so Rita Plutz. Außer den Poschen gab es auch noch Springröcke, ein kürzerer Reifrock der bis zum Knie reicht; die noch ausladenderen Reifröcke, auch Paniers genannt, waren zur Zeit von Mozart schon nicht mehr „en vogue“. Über die Poschen wird der Unterrock, auch Jupe genannt, getragen und darüber wiederum das eigentliche Kleid, der Manteau. Und was ist da nicht alles zu beachten, von der Rückenfältelung bis zur Rückenschnürung – zunächst gab es Überlegungen, nach versteckten Schnürlösungen vorne zu suchen, um beim Anlegen der Gewänder auf Hilfe verzichten zu können, doch das liegt nicht in der Natur eines Rokoko-​Mieders. Insgesamt lasten so schon einige Kilo Stoff auf der Trägerin. Als Accessoire benötigt die Dame von Stand einen Hut, Handschuhe und einen Fächer. Gerade der Fächer war wichtig, konnte sie doch mit seiner Hilfe den Galan ermutigen und ihm Zeichen fürs geheime Rendezvous geben, anderen Kavalieren ebenfalls mit einer Handbewegung signalisieren, dass sie chancenlos waren: Eine richtiggehende Fächersprache wurde entwickelt.
Während in Kleiderfragen durchaus auf jedes historische Detail geachtet wird – so kommt es Sabine Schneider zufolge gar nicht in Frage, dass in Kleidern aus der Zeit um 1650 zur Musik um 1750 getanzt wird –, wagen sich die Tanzenden bei der Musik auf Neuland, was ihre Tänze fürs Publikum sehr viel interessanter macht –- Mozart und die Klazz-​Brothers etwa, Meister des classischen Crossovers, sind eine sehr reizvolle Kombination; das Klaviertrio hat es sich zur Aufgabe gemacht hat, Jazz und klassische Musik miteinander zu verbinden. Schneiders sehen in diesen Einflüssen und in den jahrhundertealten Tänzen vielversprechende Ansätze für den Brückenschlag auch zum modernen Gesellschaftstanz – Tanz ist immer etwas lebendiges, das sich entwickelt; dass Paare gemeinsam tanzen, ist mit Blick etwa auf den Cha-​Cha-​Cha durchaus nicht Vergangenheit.
Schnupperauftritt beim
Rokokofest in Ansbach
Ihren ersten Auftritt hatte die Gruppe beim Südstadtfest; wenig später ging es zum Rokokofest nach Ansbach, um Rokokoatmosphäre zu schnuppern – der barocke, weitläufige Hofgarten dort ist denkbar günstiger Rahmen für dieses Fest. Geboten waren Fechtgruppen, Falkner, Vorführungen mit Jagdhunden nebst Reitern, Zauberern und Gauklern. Nachdem der Hofstaat des Markgrafen Carl Friedrich Wilhelm eingezogen war und seine Tänze gezeigt hatte, lud Tanzmeister Peter Hofmann die Zuschauer zum Tanz. Dieses Angebot nahmen die Gmünder sehr gerne wahr. In langen Reihen wurde getanzt und die Tanzfolgen sorgten


dafür, dass man immer wieder mit neuen Nachbarpaaren die Schrittfolge tanzte. Dass die Tänze des Barock und des Rokoko eine sehr gesellige und kommunikative Tanzform waren – und unter anderem boten sie die Möglichkeit, mit anderen Partnern als den eigenen ein bisschen zu flirten – macht das Ganze so reizvoll. So ziemlich alle Choreographien der damaligen Zeit wurden aufgeschrieben, um sie vor dem Vergessen zu bewahren – so existieren etwa 4000 Tänze aus der Zeit zwischen 1650 und 1800. Einige wurden in Ansbach getanzt – Inspirationen auch für die Ausstattung der Gewänder fanden sich mehr als genug; man konnte sich ja kaum sattsehen an den prächtigen Roben. So mancher Tipp wurde eingeholt.
Nächstes Jahr sind die Gmünder aktiv und im passenden Rokokogewand dabei in Ansbach, vor allem aber werden sie im Juni 2014 als Gastgeber viele andere Gruppen unterschiedlichster Ausrichtung aus dem Bereich der Breitensportformationen zur Landesgartenschau begrüßen können.

Trotz allen Ehrenamts bleibt die Frage nach Sponsoren, etwa für den Kauf der Stoffe. Auch Anfragen für Auftritte werden entgegengenommen. Man freut sich über tänzerischen Zuwachs, geprobt wird nach den Ferien wieder Freitagabends in der Rauchbeinturnhalle. Info: Tel. 07171 68701.

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