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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

Im Namen der Menschlichkeit: Der Gmünder Ignac Moser leitete den DRK-​Einsatz in Ungarn — Öffnung am 11. September 1989

Tausende Menschen, die alles auf eine Karte setzten, die nichts wollten, als eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien. Tausende Deutsche, vor 25 Jahren in Ungarn. Ignac Moser hat damals alles getan, ihnen zu helfen.

Donnerstag, 11. September 2014
Rems-Zeitung, Redaktion
4 Minuten Lesedauer

SCHWÄBISCH GMÜND (bt). Natürlich fiel die Wahl auf Ignac Moser: Niemand sonst in der DRK-​Führungsmannschaft der BRD sprach fließend ungarisch, hatte gar selbst die ersten Lebensjahre in Ungarn verbracht. Ignac Moser hat während seiner jahrzehntelangen Arbeit im Rettungswesen vieles erlebt. Hat einer in Schutt und Asche gelegten Stadt in Armenien, die um zigtausende Tote trauerte, ebenso beigestanden wie Katastrophenopfern in Rumänien oder Jugoslawien. Die Wochen in Ungarn aber haben ihn an seine Grenzen gebracht.
Im August 1989 hatte er zwei Tage, um seinen Ungarneinsatz vorzubereiten. Seit fast 20 Jahren hat er ein eigenes Konstruktionsbüro; damals war er angestellt und sehr froh an seinem verständnisvollen Arbeitgeber, der ihn ziehen ließ. In jenem August waren die Botschaftsbesetzungen vorbei; einige tausende DDR-​Flüchtlinge konzentrierten sich vor allem in Budapest und benötigten dringend Hilfe; das Ungarische Rote Kreuz bat um Unterstützung. Wenig später war Moser der Einsatzleiter für Gesamtungarn des DRK und hatte 450 Leute im Einsatz und in sieben Lagern über dreitausend Flüchlinge untergebracht, für die er sich verantwortlich fühlte. In Budapest nutzte er ein für 1500 Bewohner ausgelegtes Ferienlager der Jungen Pioniere, in dem bald 2500 warteteten und bangten. Vor dem Haupttor hatte die DDR einen Holzturm aufstellen lassen, von dem aus in Wort und Schrift verkündet wurde, wer freiwillig heimkehre, dem werde nichts geschehen. Niemand ging zurück, aber viele trugen ständig Mützen und Brillen, hatten die Nummernschilder ihrer Trabbis geschwärzt, mit denen sie ursprünglich am Plattensee Urlaub machen wollten – die ungarische Polizei duldete das stillschweigend. Jeden Tag, jede Nacht kamen neue Flüchtlinge. Nachdem die Kontrollen an der tschechoslowakisch-​ungarischen Grenze immer schärfer wurden, durchschwammen viele die Donau und schlugen sich dann irgendwie nach Budapest durch: „Einige kamen tropfnass an.“
Zu Hilfe gerufen, zu Hilfe geeilt. Der Alltag Ignac Mosers war weniger heroisch als vielmehr ein unablässiges Problemlösen. Freundschaften wurden in jenen schwierigen Tagen begründet, die bis heute Bestand haben. Wenn die kleine Kochmannschaft „eigentlich unmögliche Schichten“ leistete, um fast die doppelte Anzahl Essen produzieren zu können, wenn sich der Konsulatsleiter Christian Much aus allen Fenstern lehnte, unablässig, um so unbürokratisch wie möglich zu helfen, dann vergisst einer wie Moser das nicht. Wie auch seine Arbeit in diesen Tagen nie ganz vergessen wurde. Moser suchte bald nach regulären Unterkünften: „4000 Euro für ein Zehnmannzelt, tausend für die Betten und Schlafsäcke, Gulaschkanonen, Dusch– und Toilettencontainer – wir haben schnell ausgerechnet, dass wir mit 3,50 bis 3,90 Mark für Vollpension in Ferien– und Jugendhotels großer Firmen viel günstiger fuhren.“ Generell kamen die Ungarn den Helfern aus Deutschland weit über das zu erwartende Maß hinaus zu Hilfe.
Für alle, die nicht wissen, warum sie dem Roten Kreuz Kleider spenden: Ein Großteil der Kleider wird gewaschen, desinfiziert, für Männer, Frauen und Kinder nach Kleidergrößen in 500 Kilo-​Ballen gepackt, für Situationen wie damals in Ungarn, für die Soforthilfe. 60 solcher Ballen hatte Moser angefordert; es wurde kalt, und die Flüchtlinge in ihren Sommerkleidern froren. An was nicht alles zu denken war, sogar um Kondome musste nachgefragt werden. Messen wurden organisiert, katholische und evangelische, zehn Trauungen abgehalten, nicht zuletzt auch strenge Regeln durchgesetzt. Ausgangssperren um beginnenden Sabotageakten vorzubeugen etwa. Als Moser einen der Ärzte, die zu Hilfe kamen, anpfiff, es gebe keinen Katastrophentourismus, sondern „zu schaffen“; wer das nicht wolle, dem kaufe er persönlich eine Rückfahrkarte, wurde er damit im offiziellen Einsatzbericht zitiert.
Die erste Öffnung, der erste
Schnitt in den Stacheldrahtzaun
– Ungarn sei Dank
Auch Zelte und Feldbetten forderte Moser an, ließ sie aber direkt an der österreichisch-​ungarischen Grenze in Wartestellung gehen. „Wir mussten damals für alles gerüstet sein.“ All die Unterstützung ließ keinen Augenblick vergessen, wie groß die Gefahr war. Mutmaßliche Stasi-​Agenten wurden der ungarischen Polizei übergeben. „Die Menschen hatten Angst, das war immer da.“ Wer beispielsweise von den Tschechen erwischt wurde, so sprach sich schnell herum, wurde umgehend zurückgeschickt in die DDR. Für die Deutschen in Budapest und am Plattensee – im größten Lager Csilleberc und in den Zufluchtsstätten in Zánka, der Kirche Zugliget, Balatonszéplak, Balatonföldvár, Leányfalu und im Zentrum KFKI – aber auch für halb Europa, das in diesen Tagen den Atem anzuhalten schien, war das eine heute kaum noch vorstellbare Ausnahmesituation.
Moser sprach sich jeden Abend mit dem Krisenstab in Bonn ab, jeden zweiten Abend gab er eine Lagebewertung ab – offiziell an den DRK-​Verbindungsmann, aber natürlich war die deutsche Regierung beteiligt. Mehrfach hob Moser Geld ab, das als offizielle DRK-​Spende deklariert wurde: „Das Geld kam von der Regierung.“ Mit weit über hunderttausend Mark durch Budapests Straßen zu wandern, war nicht eben vergnügungssteuerpflichtig. Schon vor der offiziellen Verlautbarung wusste das Team um Moser von der bevorstehenden Grenzöffnung Ungarns am 11. September, hatte aber Anweisung von Michael Jansen vom Auswärtigen Amt, mit der Verlautbarung zu warten, bis der ungarische Regierungspräsident die Nachricht offiziell machte.
Die Flüchtlinge sollten im Zug in die BRD gebracht werden, was Ignac Moser verhinderte: „Die ersten hundert Kilometer Bahnlinie gingen Richtung Donau und Tschechoslowakei – die hätten mir nie geglaubt, dass sie in die Freiheit gebracht werden. Da hätten sich nicht wenige aus dem Zug gestürzt.“ Nicht zurückgehen würden sie, niemals, hat er mehrfach gehört – dessen eingedenk hat er dafür gesorgt, dass alsbald Doppeldecker-​Busse aus Österreich anrollten. Die Gesichter der Menschen angesichts dieser Austria-​Busse sind nichts, was man vergisst. Vergessen hat er auch nicht, dass viele die ein, zwei Tage warten mussten, sogar einige, die mit dem eigenen Trabbi da waren und sofort hätten abreisen können noch blieben: „Ihr habt die ganze Zeit für uns gearbeitet, jetzt helfen wir Euch, aufzuräumen.“
Das ist es, was ein gutes Ende ausmacht. Das und das aus Mohrenköpfen und Blumen gestaltete Rote Kreuz an seiner Eingangstür daheim in Straßdorf, das ihm seine mittlerweile tief betrauerte Frau Margret ausgelegt hatte.

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