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Nachrichten Schwäbisch Gmünd

35 hochtraumatisierte Frauen und Kinder aus dem Nordirak werden Ende Mai in Gmünd erwartet

35 hochtraumatisierte Frauen und Kinder, Kriegsopfer aus dem Nordirak, kommen Ende Mai nach Gmünd. „Wem, wenn nicht ihnen, helfen wir“, sind sich Stadt und Landkreis einig. Die Geschichten derer, die kommen, sind tränentreibend.

Donnerstag, 07. Mai 2015
Rems-Zeitung, Redaktion
3 Minuten Lesedauer

Von Birgit Trinkle
SCHWÄBISCH GMÜND. Da ist die junge Frau, die ihre Schwester – die nie wieder gehen wird –, auf dem Rücken aus dem Kriegsgebiet getragen hat. Da ist das Mädchen, dessen Eltern erschossen und dessen Bruder vor ihren Augen totgequält wurde, bevor sich die Männer über sie hermachten. Viele haben Massenvergewaltigungen ertragen, wurden verschenkt, auf Märkten verkauft, zurückgekauft. Opfer. „Verstehen Sie mich nicht falsch, die meisten sind Heldinnen, ganz starke Frauen, viele halten sich nur auf den Beinen, um für ihre Kinder da zu sein“, sagt Michael B. aus dem Staatsministerium, der seinen Namen aus Sicherheitsgründen nicht in der Zeitung lesen will. 83 Frauen und Kinder hat er in seiner Aufnahmestelle im Nordirak, aber nur 70 Plätze, sie unterzubringen. Die Frage, wen er zurücklassen muss, wenn er nicht noch 13 weitere Plätze findet, nimmt ihm den Nachtschlaf. 35 Plätze in gutem, geschütztem Rahmen in Gmünd wurden organisiert; die Flüchtlinge sind willkommen dort. Diese Plätze sind freilich auf Erwachsene ausgerichtet, und die Hälfte der Hilflosen, die kommen, sind (kleine) Kinder. Landrat und OB schauten sich gestern nur an: „Zwei, drei Kinder mehr können wir nehmen.“ „Gmünd hat am schnellsten reagiert, und das Eis gebrochen“, erinnert sich Michael B. mit Blick auf Winfried Kretschmanns dringende Bitte um Unterstützung – der Ministerpräsident hat die jesidischen Frauen im Nordirak zur Chefsache gemacht. Selbstverständlich sei das, sagt Landrat Pavel: Diese Hilfe passe ins Selbstverständnis der Ostalb und der Stadt. „Es gibt hundert Gründe, nicht zu helfen“, sagt OB Arnold, nur einen, es zu tun. Unterstützt werden sie von vielen. Von der jesidischen Mitarbeiterin im Landratsamt, die das nordkurdische Kurmanji spricht, übers Gmünder Team um Daniela Dinser, Sarah Wiltschko und Katharina Aubele, das St.-Canisius-Team, „Frauen helfen Frauen“, Polizei und DRK bis hin zur Kinder– und Jugendpsychiatrie, der Klinik für Psychosomatik mit ihren Fachärztinnen und dem Haus der Gesundheit mit ambulanten Möglichkeiten. „Für Patientinnen, die einen Bruchteil erlebt haben, brauche ich ein Jahr stationäre bis teilstationäre Behandlung“, meinte ein Facharzt mit Blick auf die Schicksale derer, die zunächst für zwei Jahre nach Gmünd kommen. Am 3. August 2014 ist ISIS, Islamischer Staat im Irak und in Syrien, in die Heimat dieser Frauen einmarschiert. Was dann geschah, stuft die UNO als Völkermord ein. Viele Kinder haben Schule noch erlebt und erzählen den Kleineren davon wie vom Paradies. Aufstehen ohne Angst, zur Schule gehen, zur geordneten, sicheren Welt der Zahlen und Fakten – Michael B. weiß gar nicht, wie oft er schon auf deutsch bis zehn gezählt oder einfache Wörter aufgeschrieben hat: „Die lernen in unglaublichem Tempo“, sagt er und zückt, selbst sichtlich berührt, Kinderzeichnungen. Um die Kleinsten macht er sich am wenigsten Sorgen. Er holt die Frauen und Mädchen, denen in ihrer Heimat nicht geholfen werden kann: Nothilfe in des Wortes eigentlicher Bedeutung. ISIS hat in unvorstellbarem Maß gewütet. Rund tausend Frauen, schätzt Michael B., brauchen Hilfe; wären alle Landkreise wie der Ostalbkreis, keine müsste ohne diese Hilfe auskommen. Einige Städte haben wohl angeboten, traumatisierte Frauen aufzunehmen, berichtet er, doch dann versagten die Landräte ihre Unterstützung; eine Konstellation wie die auf der Ostalb sei ein Geschenk. Wenn nun nach Freiburg und Stuttgart auch die Gmünder von guten Erfahrungen berichten, hofft er inständig, gibt es vielleicht weitere Zusagen. Aber jetzt müssen erst mal die 83 untergebracht werden. Die Jesiden sagten zuerst, sie kämen alleine zurecht, doch dann bat der Hohe Rat selbst um Hilfe. Auf hundert oder tausend leicht Traumatisierte kommt eine Frau, der in der traditionellen Gesellschaft des Nordirak nicht geholfen werden kann. Auch, weil kleinste Eindrücke „triggern“ können, den Schrecken zurückbringen – was Michael B. bei der Rückreise mit den ersten Betroffenen erlebt hat, als die Frauen bei der Zwischenlandung einer Gruppe friedfertiger, aber traditionell gewandeter bärtiger Mekka-​Pilger begegneten. „Am besten wär’s, in Deutschland läge Schnee“, stellte einer der Helfer fest: Am besten wäre es, alles wäre anders. Nicht nur Jesidinnen kommen nach Gmünd, auch Christinnen und Musliminnen wurde das Schlimmste angetan – die Opfer selbst sprechen nicht vom „Islamischen Staat“; mit dem Islam hätten all die Gräuel nichts zu tun. Grundsätzlich zählten weder Religion noch Ethnien, sagen die Helfer, nur das Ausmaß der Traumatisierung. Der Hohe Rat hat Michael B. Dokumente mitgegeben, um den Familienverbänden zu versichern, es sei gut, diesen Frauen helfen zu lassen, die in der Enge der von Flüchtlingen überlaufenen Häuser auch schon mal die Nächte durchgeschrien haben. Die Frauen selbst wissen dadurch auch, dass sie nicht verstoßen werden, dass sie, wenn sie dies wollen, jederzeit wieder willkommen sind daheim. Jetzt müssen sie anfangen, zu heilen. Erfahren, dass sie wieder Kontrolle haben über ihr Leben. Die Stadt will ihnen nach Kräften dabei helfen.
Die Kosten für die Evakuierten – unter anderem kommen die beiden Schwestern und die kleine Überlebende – werden größtenteils vom Land übernommen. Ein Spendenkonto der Stadtkasse wurde vor allem für die Kinder eingerichtet; Verwendungszweck „Spende zu Gunsten Flüchtlinge Nordirak“: KSK Ostalb, IBAN: DE75614500500440000141 Volksbank Schwäbisch Gmünd, IBAN: DE57613901400105200000.

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