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Marginalie: Schauspielkünste

Symbol-​Foto: Pixabay/​geralt

Millionen von Schauspielern arbeiten ohne Gage. Sie arbeiten stundenlang jeden Tag, ohne Pause, die ganze Woche lang. Freie Tage sind die Ausnahme. Wir alle sind ihnen schon begegnet, haben uns nichts dabei gedacht, sie nicht erkannt. Denn es sind wirklich gute Schauspieler.

Sonntag, 28. April 2024
Sarah Fleischer
2 Minuten 23 Sekunden Lesedauer

Unermüdlich spielen sie ihre Rollen: die fürsorgliche Mutter, der liebende Ehemann, die hilfsbereite Großmutter, der fleißige Kollege, die hart gesottene Politikerin, das strebsame Kind.
Was alle ihre Rollen gemein haben: Das Lachen. Das ist immer da, wenn es drauf ankommt, wie auf Knopfdruck erscheint es in den Gesichtern. Nein mein Liebling, alles wird gut. Ach was, schon okay. Klar kann ich das machen. Natürlich helf’ ich dir noch. Nein, das macht mir nichts aus. Mir? Mir geht’s prima!
Oscarreife Performances, jedes Mal absolut zuverlässig. Aber Schauspielerei ist ein anstrengendes Gewerbe, auf Dauer laugt es einen aus, von einer Rolle in die nächste zu wechseln, ohne Pause, ohne Luftholen. Denn die Maske muss sitzen, der Text ebenso. Fehler wären fatal.
Nur manchmal, wenn man ganz genau hinsieht, dann bemerkt man sie: Die feucht glänzenden Augen über dem Lächeln, das immer gleich aussieht. Die hängenden Schultern, die sich immer nur dann straffen, wenn jemand in der Nähe ist. Denn sie sind schwer, so schwer, genau wie der Kopf, die Augenlider und das Herz. Die Matratze hat eine beinahe magische Anziehungskraft entwickelt. Denn solange man das Bett nicht verlässt, solange man niemandem begegnet, kann die Maske noch auf dem Nachttisch liegen bleiben. Direkt neben dem Drehbuch für diesen Tag. Natürlich kennt man den eigenen Text, die Einsätze, wann man welche Emotion zeigen muss. Nicht nur, dass man sie hunderte Male geprobt hat, mit der Zeit sammelt man auch Erfahrung, was wann gewünscht wird.
Nicht, dass man sich mal für alle diese Rollen beworben hätte, sie sind einem einfach irgendwie zugefallen. Das Leben als ständiges Casting sozusagen. „Du wärst die perfekte tragische Nebenfigur“, findet der Regisseur und zack – hat man die Rolle. Und keiner weiß es, nur man selbst. Zumindest denkt man das.
Millionen von Schauspielern arbeiten ohne Gage. Sie arbeiten stundenlang jeden Tag, ohne Pause, die ganze Woche lang. Und sie erkennen sich gegenseitig. Ich weiß es, sagen die Augen, die einen ansehen. Ich weiß alles.
Aber sie würden es einem auf gar keinen Fall erzählen. Niemals. Sie sitzen schweigend im Stadtgarten und beklatschen die Aufführungen der Esslinger Landesbühne, des Kolping-​Theaters und der Musical Factory. Sie diskutieren mit ihren Freunden und Kollegen, ob die Oscar-​Nominierungen des Jahres gerechtfertigt waren. Sie geben ihre Bewertung für den sonntäglichen Tatort ab und wünschen sich, es würde auch in ihrem endlosen Film endlich mal jemand „Aus!“ rufen; es möge der Vorhang fallen. Wenn man die Maske schon nicht komplett fallen lassen kann, dann will man sie wenigstens auffrischen.
Das Phantom der Oper, Spiderman, Sido und Cro – alle haben sie ihre Masken irgendwann abgelegt, geschadet hat es ihnen eigentlich nicht. Warum es einem selbst trotzdem so schwer fällt – gute Frage. Irgendetwas zwingt einen dazu, weiterzumachen; weiter lächeln, weiter nicken, weiter Text lernen. Einmal Schauspieler, immer Schauspieler. Da ist die Branche gnadenlos. Und man selbst auch. Bröckelt die Maske, bröckelt man selbst; was dahinter ist darf und will keiner sehen, so denkt man, und wünscht sich gleichzeitig nichts sehnlicher als das.
Die unbezahlten Schauspieler wollen keine Gage. Sie wollen einfach nur keine Schauspieler mehr sein.

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